„WIR MÜSSEN FIT FÜR DIE ZUKUNFT SEIN“ – TEIL II

„Digitalisierung unterstützt den Physiotherapeuten“

René Portwich ist Leiter der vital & physio GmbH in Warnemünde, einem Zentrum für Naturheilverfahren, Physiotherapie und Prävention. Zudem ist er Trainer und Berater für medizinische Berufe und engagiert sich als Vorstandsmitglied im Physiotherapieverband Mecklenburg-Vorpommern. Im Gespräch redet er über Fachkräftemangel und Chancen durch die Digitalisierung.

In einem Interview mit dem Ärzteblatt bemängelten Sie vor zwei Jahren fehlende Fachkräfte im Nordosten – und das Zusatzqualifikation aus eigener Tasche zu finanzieren sind. Wie sieht es heute aus?

Seit Juli 2019 haben wir in Mecklenburg-Vorpommern den Ost-Westangleich. Das bedeutet, dass im Osten jetzt dieselben Gehälter gezahlt werden können wie auch im Westen. Nach 30 Jahre haben wir endlich eine einheitliche Vergütung. Das bedeutet aber nicht, dass mit der Anpassung die Ausbildung im Bereich der Therapie ansteigt. Es gibt viel zu wenig junge Leute, die überhaupt einen medizinischen Beruf erlernen. In den letzten zehn Jahren ist die Ausbildung in Mecklenburg-Vorpommern im Bereich der Physiotherapie-Berufe um über 80 Prozent zusammengebrochen. 2010 wurden noch über 360 Physiotherapeuten pro Jahr ausgebildet. Mittlerweile liegt die Ausbildung bei 50 Therapeuten pro Jahr. Davon wanderten in der Vergangenheit immer noch viele in die besser zahlenden Westgebiete ab. Oder sie wählten einen anderen Beruf. Trotz der Vergütungserhöhung ist der Beruf des Therapeuten noch immer schlecht bezahlt.

Wo liegen genau die Probleme, Herr Portwich?

Die Zusatz-Zertifikate sind nach wie vor ein Riesenproblem. Es gibt keinen Beruf in Deutschland, in dem so viele Zertifikate gleich nach der Ausbildung gemacht werden müssen, die auch noch selbst bezahlt werden müssen. Im Bereich der Therapie kann ohne diese Zusatzzertifikate kaum am Patienten gearbeitet werden. Hier wird an einer neuen Ausbildungsordnung vom Bundesgesundheitsministerium gearbeitet, die alle Zertifikate integriert! Eine Akademisierung würde die Fachkräftesituation noch weiter verschärfen, weil Akademiker in der Regel deutlich mehr verdienen, als im klassischen Therapieberuf. Ein weiteres Problem: Therapeuten mit Hauptschul- und Realschulabschluss sind vom Studium ausgeschlossen. Die Gewinnung von ausländischen Therapeuten könnte zwar vieles lösen, aber das Anerkennungsverfahren ist teuer und langwierig.

Von denen, die in Deutschland nach dem Jahr 2000 geboren sind, hat Prognosen zufolge die Hälfte gute Chancen, das 100. Lebensjahr zu erreichen. Worin wird die zukünftige Herausforderung der Physiotherapie liegen?

Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern den demografischen Wandel etwa zehn Jahre früher als in anderen Bundesländern. Bei uns herrscht eine deutliche Überalterung der Bevölkerung. Vor allen Dingen in strukturschwachen Räumen, wo es kaum noch eine Physiotherapiepraxis gibt. Hausbesuche für Physiotherapie gibt es in diesen Gegenden gar nicht mehr. Die ältere Bevölkerung in den ländlichen Räumen muss deutlich mehr für die eigene Gesundheit machen und der Therapeut andere Wege zur Erhaltung der Gesundheit aufzeigen. Man wird gerade bei Senioren verstärkt auf digitale Angebote zugreifen und muss auf die Akzeptanz der digitalen Lösungen hoffen. Besonders Übungsprogramme im Haus steigen stetig an. Hier ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich, die das jetzige Kassenbezahlsystem und die Gesetzgebung nicht hergibt. Speziell vergütete telemedizinische Physiotherapie mit Unterstützung der Pflegekräfte.

Die Digitalisierung schreitet voran und Datenschutz ist bei uns ein hohes Gut. Jetzt sollen die Gesundheitsdaten der 73 Millionen gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland ohne ihr Einverständnis für die Forschung verwendet werden können. Ist das mehr Chance als Risiko – oder überwiegt das Risiko?

Im Bereich der langfristigen Beobachtung von Patienten sehe ich die Nutzung von Gesundheitsdaten als Chance. Genauso wie die weitere Entwicklung und Tests neuer Verfahren. Aber nur in dem Fall, wenn alles wissenschaftlich und langfristig überwacht wird. Dann können bei seltenen Erkrankungen Heilungen noch besser dokumentiert werden.

Wer soll Ihrer Meinung nach die Medizin der Zukunft, also die komplette Digitalisierung für eine zufriedenstellende Gesamtversorgung, bezahlen?

Die Antwort darauf ist einfach: Es ist immer der Versicherte, der mit seinen Beiträgen die Krankenkasse finanziert – und die Krankenkassen finanzieren darüber die zukünftigen Versorgungsangebote für die Bevölkerung. Einen großen Einfluss hat hier auch unsere Regierung, die mit Gesetzen die Krankenkassen als Träger des öffentlichen Rechts zwingen können, in den einen und den anderen Bereich das Geld zweckgebunden auszugeben. Eines ist aber klar: Es ist ein Trugschluss, dass die Digitalisierung den Arzt oder Therapeut ersetzen kann. Sie unterstützt lediglich die Prozesse.

Als Vorsitzender des VDB Physiotherapie Landesverband Mecklenburg-Vorpommern sprechen Sie viel mit Praxisinhabern. Wie sind denn unter diesen „digitalen Zukunftsaspekten“ Stimmung und vor allem Bereitschaft, die Praxis fit für die Zukunft zu machen?

Die Praxen haben deutliche Hemmschwellen, einen PC für die Praxisverwaltung zu nutzen. Obwohl der Gesetzgeber dafür Fördermittel bereitstellt, um die Abläufe In der Praxis digital zu unterstützen. Und auch der VDB wirkt unterstützend bei der Fördermitteleinwerbung in Mecklenburg-Vorpommern. Einige Praxen haben bereits dieses Angebot genutzt und führen etwa KG-Gruppen digital unterstützt durch. Andere wiederum haben eine Praxisverwaltungssoftware implementiert.

Sehen Sie ein Zwei-Klassen-System unter Therapeuten auf uns zukommen? Und zwar jene, die digitalisieren und denen, die sich dagegenstellen?

Wir haben derzeit schon ein Zwei-Klassen-System. Wir haben Privatpatienten und Kassenpatienten. Auf Grundlage des demografischen Wandels wird sich das noch einmal verschärfen. Die Menschen werden sich an die digitale Unterstützung gewöhnen. Wir haben ja schon jetzt kaum noch Menschen in Deutschland, die keine EC-Karte und kein Handy haben.

Zum Schluss: Was wünschen Sie sich aus Sicht des Physiotherapeuten?

•  Deutliche Vergütungssteigerungen
•  Zertifikate in die Ausbildung integrieren
•  Ausbildungsreform umsetzen
•  Abbau der Bürokratie
•  Abschaffung des Schulgeldes in allen Bundesländern
•  Keine Kammer für Physiotherapeuten und Masseure

Für weitere Fachtagungen zum Thema “Physiotherapie 5.0 – Patientenversorgung 2020” finden Sie die Termine und Anmeldeformulare hier.