„WIR MÜSSEN FIT FÜR DIE ZUKUNFT SEIN“ – TEIL I

Kaum einer kennt sich in der Branche so gut aus wie Stefan Sievers. Der Inhaber vom Elithera Gesundheitszentrum Marne und Landesgruppenvorsitzender VPT Hamburg Schleswig- Holstein erklärt in unserem Interview wie wichtig politische Weichenstellungen für den Wandel der Branche sind – und dass es ohne Digitalisierung nicht geht.

Stefan, die wichtigste Frage vorab. Ab wann kann man die Einzel-KG in die Gruppen-KG ohne Umwege über Ärzte verschieben?

Das wird passieren, wenn der Heilmittelkatalog zusammen mit der Blankoverordnung in Kraft tritt. Also konkret ab Oktober 2020. Für uns Therapeuten bedeutet es, das wir selbstständig von Einzel- in die Gruppen-KG wechseln können. Ich könnte das zwar jetzt schon über den Umweg über den Arzt anfragen. Der Aufwand ist jedoch groß – deswegen geht diesen Weg so gut wie niemand.

Die Digitalisierung in der Physiotherapie wird die Branche radikal verändern. Wenn wir den Blick ins Ausland richten – wo stehen wir dann mit unseren Bemühungen?

Ganz weit hinten. Einige Physiotherapeuten sind noch nicht im elektronischen Zeitalter angekommen. Rund 50 Prozent der deutschen Praxen sind noch nicht einmal digitalisiert, insbesondere was die Terminvergabe anbelangt. Das kommt mit dem Digitalisierungsgesetz natürlich massiv ins Rollen. Die älteren Kollegen werden möglicherweise sagen, dass sie das aussitzen. Alle anderen müssen sich an die Umstrukturierung ihrer Praxis gewöhnen. Nur auf Papier wird es auf Dauer nicht mehr gehen. Stichwort elektronische Patientenakte, alles wird digital.

Als Landesgruppenvorsitzender VPT Hamburg Schleswig-Holstein sprichst Du viel mit Kollegen. Wie sind denn Stimmung und vor allem Bereitschaft, die Praxis fit für die Zukunft zu machen?

Ich merke schon den Widerstand unter den Kollegen. Das hängt aber nicht damit zusammen, dass es keine Bereitschaft für Veränderungen gibt. Vielmehr haben viele Angst vor den Investitionskosten und der Zeit, die man für die Einarbeitung benötigt. Einige Kollegen besitzen kaum digitale Erfahrungen. Da muss man dann ganz von vorne anfangen, etwa bei der Einrichtung ihres Tablets. Wir haben etwa ein Prozent sogenannte High Performer, die sich schon jetzt auf dem neuesten technischen Stand befinden. Der große Rest muss sich aber auch der Zukunft stellen. Und zwar lieber jetzt als später.

Siehst Du ein Zwei-Klassen-System unter Therapeuten auf uns zukommen? Und zwar jene, die digitalisieren und denen, die sich dagegenstellen?

Ich sehe eher ein Altersgefälle. Wer jetzt 60 Jahre alt ist, scheut häufig die Investitionskosten, weil er nicht mehr lange die Praxis führt. Auf der anderen Seite wird es schwierig, eine nicht modernisierte Praxis zu verkaufen.

Die Anbindung an die digitalen Schnittstellen zur Telematik-Infrastruktur und somit zur elektronischen Vernetzung ist bei Physiotherapeuten freiwillig. Was muss getan werden, um finanzielle Hilfen für eine schnelle und großflächige Anbindung zu bekommen?

Die Frage ist eher, wollen wir auch die Kollegen zur digitalen Vernetzung zwingen, die kurz vor der Rente stehen? Oder sagen wir, dass es notwendig ist, um zukünftig Wettbewerbsfähig zu bleiben und den Anschluss nicht zu verlieren. Meine persönliche Meinung ist ganz klar zukunftsorientiert. Ohne Digitalisierung können wir weder Patienten qualifiziert noch quantitativ versorgen. Das geht nur mit Unterstützung in Form von digitalen Assistenzsystemen auch in der aktiven Gruppentherapie.

Nun kommen die Babyboomer, die bald in Rente gehen. Gibt es für deren Versorgung genügend Physiotherapeuten?

Nein. In fünfzehn Jahren haben wir den Peak an alten Menschen in Deutschland erreicht. Schon jetzt beginnen die geburtenstarken Jahrgänge. Dann sinkt die Kurve langsam über zehn Jahre. Ich werde bis dahin im Ruhestand sein, aber hoffe natürlich, dass die Versorgung dann gesichert ist. Nur glaube ich nicht daran, weil uns die Therapeuten fehlen werden. Wir müssen andere Versorgungsmodelle finden.

Was lässt sich konkret tun?

Die ersten Schritte sind mit der Ausbildungsordnung getan. Ab 2021 soll die Ausbildung zum Physiotherapeuten bundesweit kostenlos sein. Negativ ist zu bewerten, das es momentan in Krankenhäusern schon eine Ausbildungsvergütung gibt. Dann gibt es Bundesländer, wo in unterschiedlicher Höhe für die Ausbildung gezahlt werden muss. Ich halte dieses Gefälle für einen nicht haltbaren Zustand und ungerecht.

Zum Schluss: Was wünscht Du Dir aus Sicht des Physiotherapeuten?

Ich würde mir eine höhere Anerkennung unseres Berufsstandes wünschen. Und eine Verlagerung in mehr Eigenverantwortung beim Direktzugang. So wie es in den Niederlanden bereits praktiziert wird. Wichtig dabei: Wer keinen Direktzugang möchte, kann weiter auf Verordnung behandeln. Das wäre der richtige Weg.

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