Nachbehandlungskonzept nach Knie- und Hüftendprothesen-Implantation

Therapie und Praxis vom VDB, veröffentlicht Heft 4/2020

Arthrose ist die häufigste Gelenkerkrankung des erwachsenen Menschen weltweit und betrifft vorwiegend Menschen höheren Alters (1,2). In den letzten Jahren zeigte sich in Deutschland ein Anstieg der Arthroseprävalenz sowie ein Anstieg der Hüft- und Knieendprothesen-Implantationen. Laut der Fallpauschalen bezogenen Krankenhausstatistik (DRG-Statistik) wurden im Jahr 2007 noch 204.018 Endoprothesen-Erstimplantationen am Hüftgelenk und 146.562 am Kniegelenk durchgeführt, im Jahr 2018 waren es 239.204 bzw. 190.427 (3,4).

Aufgrund des größer werdenden Patientenaufkommens in der Hüft- und Knieendoprothetik und eines Mangels an physiotherapeutischen Fachkräften ist eine individuelle Nachbehandlung zunehmend schwieriger umsetzbar (5). In der aktuellen Literatur werden unterschiedliche Konzepte beschrieben, die Lösungsansätze für dieses Problem aufzeigen.

Han et al. (2015) zeigten, dass in der frühen Rehabilitationsphase nach Knieendoprothesen-Implantation ein in der Häuslichkeit durchgeführtes Trainingsprogramm ebenso effektiv ist, wie die Betreuung durch einen Physiotherapeuten in den Praxisräumen (6). Andere Studien beschäftigen sich mit der Effektivität technischer Lösungen für eine Rehabilitation in der Häuslichkeit. Wijnen et al. (2020) zeigten aktuell eine bessere Funktionalität nach Hüftendoprothesen-Implantation in den ersten sechs postoperativen Monaten durch eine 12-wöchige Therapie in der Häuslichkeit mittels Tablet-App und gelegentlicher Telefonbetreuung durch den Physiotherapeuten im Vergleich zu normaler ambulanter Rehabilitation (7). Des Weiteren konnten Lenguerrand et al. (2020) bestätigen, dass Gruppentherapie ergänzend zur Standardtherapie nach Knieendoprothesen-Implantation einen positiven Einfluss auf das funktionelle postoperative Outcome hat (8).

Ziel war es, eine digital unterstützte Gruppentherapie für Patienten nach einer Knie- und Hüftendoprothesen-Implantation zu entwickeln, die durch angepasste Trainingsprogramme für jeden Patienten eine langfristige, individuelle Nachbehandlung mit Verbesserung des funktionellen Outcomes sicherstellen soll.

Im Rahmen des ZIM-Projekts MOREBA – Mobile Erfassung des Rehabilitationsverlaufes und der körperlichen Aktivität nach operativen Eingriffen am Bewegungsapparat – wurde ein entsprechendes Therapiekonzept in Zusammenarbeit mit der E+S Gesunde Lösungen GmbH, vital & physio GmbH, der Universität Rostock sowie der Universitätsmedizin Rostock erarbeitet.

Das Therapiekonzept basiert auf einer digital unterstützten Gruppentherapie, bei der die Patienten unter Aufsicht eines Physiotherapeuten Übungen mit Hilfe einer Softwarelösung an einem Monitor durchführen. Dabei wird das videobasierte Versorgungstool YOLii (E+S Gesunde Lösungen GmbH, https://yolii.de/) verwendet. Während der Therapieeinheit werden Patienten digitalisierte Übungen sowie Anweisungen zur Geschwindigkeit und Durchführung der Übungen auf einem Monitor angezeigt. Durch unterschiedliche Therapiestationen können mehrere Patienten gleichzeitig in einer Gruppe Übungen durchführen (Abb. 1 Gruppentherapie mit YOLii System).

Durch ein personalisiertes Anmelden im YOLii System wird gewährleistet, dass die Übungen an den aktuellen Trainingszustand des Patienten angepasst sind. Somit kann eine individualisierte Behandlung im Rahmen einer Gruppentherapie realisiert werden. Basierend auf den ICD-10-Codes (Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen) wird dem Physiotherapeuten eine Vorauswahl an Übungen vorgeschlagen, welche anschließend individuell angepasst werden können.

Für die Übungsprogramme der Hüft- und Knieendoprothesen-Patienten werden im YOLii System 6 Aufwärmübungen, 24 Hauptübungen und 4 Dehnübungen ausgewählt, die sich an den Empfehlungen des Vancouver General Hospital and Richmond Hospital orientieren (9-12). Hieraus wurden 17 Therapieprogramme mit steigendem Schwierigkeitsgrad entwickelt. Die Dauer eines Therapieprogramms beträgt jeweils 3 Woche, sodass sich hieraus eine Therapiedauer von insgesamt 51 Wochen ergibt. Die Hauptübungen bestehen aus 16 Basisübungen und acht Steigerungsübungen, die sich auf 4 verschiedene Therapieblöcke (Widerstandsband, Rumpf/Boden, Stepper und Ballkissen) verteilen.

Jede Therapiesitzung umfasst zwei Aufwärmübungen, vier Hauptübungen sowie zwei Dehnübungen. Während der ambulanten Therapie führen die Patienten zweimal pro Woche ihre individuell angepasste Trainingsroutine durch. Die Therapiesitzung dauert ca. 30 Minuten mit einer aktiven Trainingszeit von 20 Minuten.

Die Einstufung der Patienten in verschiedene Leistungsgruppen erfolgt mittels der Borg-Skala (13), sowohl zu Beginn der ambulanten Behandlung als auch bei jeder dritten Sitzung während des postoperativen Therapieprozesses. Die Borg-Skala ist ein Tool zur subjektiven Einschätzung des Anstrengungsempfindens bzw. des Erschöpfungsgrades (Ratio of Perceived Exertion, Abb. 2, Borg-Skala (13)), mittels dessen die Patienten am Ende der jeweiligen Therapieeinheit ihre Erschöpfung bewerten. Dieses Vorgehen ermöglicht eine individuelle Anpassung der Wiederholungszahl und eine Adaptierung des Trainingsplans je nach individuellem Fortschritt der Patienten.

Das MOREBA-Therapiekonzept wird aktuell in einer Pilotstudie evaluiert. Dabei werden Hüft- und Knieendoprothesen-Patienten 12 Monate postoperativ mit dem neuen MOREBA-Therapiekonzept versorgt und präoperativ sowie drei, sechs, neun und zwölf Monate postoperativ untersucht. Die erhobenen Daten werden mit denen einer Kontrollgruppe (postoperative Standardversorgung nach Hüft- und Knieendoprothesen-Implantation) verglichen. Es werden u.a. Daten zur Gelenkfunktion, der Gangfunktion, der körperlichen Aktivität des täglichen Lebens und zur Lebensqualität erhoben.

Durch die Möglichkeit, mehrere Patienten zeitgleich durch einen Therapeuten individuell zu behandeln, stellt das MOREBA-Konzept eine effiziente Alternative zur aktuellen postoperativen Standardversorgung in Deutschland dar. Die Patienten erhalten, im Vergleich zur Standardtherapie (drei bis vier Wochen stationäre oder ambulante Anschlussheilbehandlung, ggf. gefolgt von einer ambulanten Physiotherapiebehandlung auf Rezeptbasis), über das erste postoperative Jahr hinweg eine durchgehende physiotherapeutische Behandlung. Die Therapie mittels MOREBA kann dank der digital unterstützten Nachbehandlung individualisiert umgesetzt werden, indem diese entsprechend der individuellen Belange und des Leistungsniveaus des Patienten geplant und im Therapieverlauf angepasst wird.

Judith Osterloh1, Franziska Knaack1, Juliana Peschers2, Lisa Nawrath2, Rene Portwich2,
Peter Eichstaedt3, Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Ing. Rainer Bader1, Dr. med. Martin Darowski1

1 Forschungslabor für Biomechanik und Implantattechnologie, Orthopädische Klinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Rostock, 2 vital & physio GmbH, Rostock, 3 E+S Gesunde Lösungen GmbH, Hamburg

Wir danken René Portwich, Vorstand VDB, für die Erlaubnis der Veröffentlichung.
Kontakt: vital & physio GmbH
rene.portwich@vital-physio.info
Tel. 0179/787 12 67

 

ERGÄNZUNG: Aufgrund der Pandemie wurde die Laufzeit des ZIM-Projekt MOREBA bis Ende 2021 verlängert.